Bärenmarktrally

Technisch betrachtet haben die US-Börsen einen neuen Hausse-Zyklus eingeleitet, nachdem die vorangegangene elfjährige Hausse im März jäh zu Ende ging. Jedenfalls kann man diesen Eindruck gewinnen, wenn man auf die großen Aktienindizes blickt.

Seit dem herben Kurseinbruch mit dem Tiefpunkt am 23. März schwang sich der S&P 500 um fast 30% auf. Dabei setzten sich jene Muster fort, die sich grosso modo seit der großen Finanzkrise der Jahre 2008 ff. etabliert haben. Vor allem in den nach Höhe und Zeitrahmen unbegrenzten Stützungsmaßnahmen der Notenbanken sehen viele Börsianer eine Wiederholung des alten Spielplans.

Außerdem haben die Favoriten des letzten Börsenaufschwungs ihre angestammte Rolle wieder eingenommen. Eine Kohorte um Amazon, Microsoft, Apple, Google, Netflix, Visa, Facebook und Tesla schickt sich bereits an, alte Höchstkurse ins Visier zu nehmen. Auffällig ist, dass die fünf schwersten der genannten Aktien angesichts ihres enormen Marktwertes inzwischen mehr als 32% des ehemals marktbreiten S&P 500 ausmachen.

Abermals fehlt dem Aufschwung Breite, denn in der zweiten und dritten Börsenreihe befinden sich die meisten Titel nach wie vor in der Baisse. Dort finden sich viele Aktien, die mitunter die Hälfte ihres Börsenwertes eingebüßt haben.

Parallel zum letzten Börsenaufschwung bleibt Europa deutlich hinter den Vereinigten Staaten zurück. An den Finanzmärkten dominiert verstärkt die Einschätzung, dass europäische Länder  die Hauptgeschädigten der Corona-Krise sein werden. Ähnlich war es im Nachgang der zunächst rein amerikanischen Subprimekrise, als vor allem südeuropäische Nationen in eine Bankenkrise und den folgenden Eurorettungsstrudel gerissen wurden, während die USA vergleichsweise rasch aus der Krise emporstiegen. Die Bundesrepublik, die seinerzeit gar keine Immobilienpreisblase aufwies, wurde aber aufgrund ihrer starken Einbindung in den Welthandel und der Risikofreude ihrer vor allem staatlichen Landesbanken mit in den Orkus befördert. Mit Blick auf die aktuell angespannte Situation in Italien, Spanien und Frankreich verfestigt sich nunmehr an den Finanzmärkten ein Dafürhalten, demzufolge Europa abermals am schlimmsten von der gegenwärtigen Krise betroffen sein wird. Jedenfalls deutet die schwache Kursentwicklung der Gemeinschaftswährung Euro ein solches Szenario an. 

Ansonsten wird einmal mehr argumentiert, die Aktienanlage sei alternativlos, weil ihr Hauptwettbewerber, die langfristige Zinsanlage, kolossal unattraktiv sei. So richtig diese Auffassung intellektuell ist, historisch war sie falsch. Zwar konnte man sich vor zehn Jahren keine negativen Zinsen vorstellen, aber heute ist man kein Exot mehr, wenn man Zinsen von minus drei Prozent für möglich hält. Dahinter steht immerhin ein starkes Argument. Es lautet: Staaten und Altersvorsorgesysteme sind derartig zinsorientiert ausgerichtet, dass höhere Zinsen weder wirtschaftlich tragbar noch politisch ohne Schaden machbar sind. Fällige Rechnungen können nur noch mit dem Geld aus der Druckerpresse beglichen werden, denn die wegbrechenden Steuereinnahmen bei zugleich gigantischen Neuverschuldungen zerrütten die staatlichen Finanzen vollends. Und im Hintergrund vollzieht sich der hinreichend beschriebene demographische Wandel, der die Lage zusätzlich verschlimmert.

Im Ganzen wirkt ein größerer Wohlstandsverlust mittlerweile unausweichlich. Die staatlich verordneten Stillstandsmaßnahmen werden weltweit zu einem Konjunktureinbruch von 7,5% im Jahr 2020 sorgen, sofern man dem Internationalen Währungsfonds IWF Glauben schenkt. Unternehmen berichten von drastischen Gewinneinbrüchen. Viele Gewerke bewerben sich um Staatskredite. Die Arbeitslosigkeit wird wieder zum Hauptthema der Politik werden. Gefahren systemischer Beeinträchtigungen von Grundrechten und Freiheiten des Einzelnen haben deutlich zugenommen. An eine rasche Rückkehr zur alten Normalität ist kaum zu denken.

Aktienanleger in Deutschland haben vom Staat nichts Positives zu erwarten, vor allem in steuerlicher Hinsicht. Gleichwohl sollten sie die Krise nicht ungenutzt verstreichen lassen. Aktienselektion dürfte in den kommenden Wochen und Monaten wichtiger sein als Trendfolge. Heute sind an der Börse mannigfache Kombinationen aus hoher Qualität und niedrigen Kursen zu beobachten. Zugleich bleibt fraglich, ob der aktuelle Börsenaufschwung mehr als eine Bärenmarktrally ist.


Aus Chicago

Ihr

Dr. Christoph Bruns